Detailansicht

MIT DER KRAFT DER TRIBÜNE: HC ERLANGEN ERKÄMPFT SICH EINEN PUNKT GEGEN MELSUNGEN

25.09.2022

Als die Uhr auf 17:49 Uhr sprang an diesem Sonntagabend, nachdem Christoph Steinert ein letztes Mal zu dieser Siebenmeterlinie geschritten war, als sich der tapfere Nebojsa Simic noch einmal vergeblich nach Steinerts frechem Wurf gestreckt hatte und der Handball ein letztes Mal an diesem Abend die Torlinie der MT Melsungen zum 34:34-Endstand überflogen hatte - da musste irgendwo in Nordbayern, wo sie auch immer Erdplattenbewegungen verfolgen und allerhand Wetterdaten messen, der Seismograph einmal kurz, aber gewaltig ausgeschlagen haben. Dabei war es gar kein Erdbeben, was sie, wenn sie die gewaltige Eruption, die da vom Kurt-Leucht-Weg in Nürnbergs Süden herübergeschwappt kam, nachverfolgt hätten - es war eine gewaltige Welle des Glücks und der Begeisterung, losgeschickt von 4089 euphorisierten Handballfans, die sich endlich erlöst und glücklich in den Armen liegen konnten. 60 Minuten lang hatten sie niemals aufgehört an einen Punktgewinn gegen das an normalen Tagen so übergroße Melsungen zu glauben. 60 Minuten lang hatten sie ihren HC Erlangen mit allem, was sie hatten, nach vorn gepeitscht - obwohl es ziemlich lange nicht danach ausgesehen hatte, als würde nur drei Tage nach der ersten Saisonniederlage in Leipzig dieser verregnete Sonntag doch noch ein Happy End für sie übrig haben. Umso größer war das Glück geworden: 34:34 (15:18) endete eine hochspannende, zum Schluss beinahe dramatische Partie, „diesen Punktgewinn“, sagte sogar Raul Alonso, der Erlanger Trainer und Sportdirektor, erleichtert, „haben wir uns heute erkämpft - aber den haben sich vor allem unsere Fans verdient, weil sie uns heute bis zum Ende getragen haben.“


Dabei hatte die Begegnung so ganz anders als gewünscht begonnen. Melsungen, das sich in aller Ruhe eine ganze Woche lang hatte auf den HC Erlangen vorbereiten können, dominierte von Beginn an, suchte und fand Lücken in der Erlanger Deckung und zog so schnell und unaufhaltsam davon. „Wir hatten noch nicht einmal Zeit gehabt, die Niederlage in Leipzig richtig aufzuarbeiten“, gestand Raul Alonso, „deshalb hatten wir uns vorgenommen und vor allem auch gehofft, dass wir von Beginn an hochaggressiv zu Werke gehen.“ Das aber misslang: Hinten pfiffen Klemen Ferlin im Erlanger Tor die feinen Würfe der Melsunger Superstars nur so um die Ohren, auch Bertram Obling fing, als er für den slowenischen Nationaltorwart eingewechselt wurde, zunächst nur wenig. Vor allem im Tempospiel überliefen die ausgeruhten Gäste immer wieder den HC Erlangen, der sich seinerseits zu viele Ungenauigkeiten im Abschluss leistete. Von 1:3 auf 2:5, auf 5:10, auf 7:12 ging es so dahin, weil Erlangen gleich zweimal auch vom Siebenmeterpunkt kein Glück hatte. Doch je näher die Halbzeit rückte, desto mutiger wurden die Abschlüsse und desto größer wurde der Glaube an eine späte Aufholjagd. Ein erstes klitzekleines Beben registrierte der Seismograph vermutlich nach Hampus Olssons Wurf ins leere Tor in Überzahl zum 12:14 - sieben Minuten waren es da noch bis zum Wechsel. Mit 15:18 ging es in die Katakomben.

Anstatt weiter zu verkürzen, erkämpfte sich Melsungen den Ball und löschte alle Hoffnungen auf einen schnellen Ausgleich wie ein Windzug eine Kerze: 15:19 statt 16:18 - „Melsungen war heute besser“, fand auch Christoph Steinert später, „was uns aber ausgezeichnet hat, war der Kampf und die Moral - gemeinsam mit unserem begeisternden Publikum“. Dieser Kampf, er war nun im Begriff loszubrechen. Hinten parierte Obling ein paar glasklare Melsunger Torchancen, vorn brachte Manuel Zehnder viel Energie und Tempo ins Zentrum - wo sich zuvor Nico Büdel in Abwehr- und Angriffsschlachten bis an das körperliche Limit gearbeitet hatte. Und auch hinten bekam der HCE nun die 125-Kilogramm-Masse des brasilianischen Kreisläufers Rogerio Moraes mehr und mehr gestemmt - wie Burschen den Kerwasbaum hoben, drückten, schleppten Sebastian Firnhaber, Tim Zechel und der äußerst fleißige Nikolai Link gemeinsam Moraes immer wieder aus der Gefahrenzone. Das zeigte Wirkung - beim Gegner wie auf den Rängen wie im Punktestand: Erlangen kroch langsam, aber Erlangen kroch nun heran. Als Bertram Obling sensationell hielt und sein langer, zentimeterfeiner Pass Hampus Olsson fand, stand es nur noch 21:22 (39.) - und die Nadel des Seismographen schlug schon wieder vorsichtig aus. Ein letztes Mal brachte der starke Kai Häfner mit dem 22:25 für Melsungen etwas Luft zum Atmen zwischen die Teams, dann drückte der HCE immer fester zu: Nikolai Link zum 25:26 (43.), Tim Zechel zum 28:29 (48.), Manuel Zehnder zu, 29:30 (51.), Christopher Bissel zum 30:31 - jeder einzelne Treffer wirkte wie eine neuerliche Injektion Koffein in die Schlagader der Tribüne - das Glück, es war nun endlich wieder greifbar.

Als die Crunchtime begann, brachte Raul Alonso doch noch den ausgeruhten Simon Jeppsson für die quirligen, temporeichen Alternativen zurück aufs Feld. Der Plan war wohl, auch wieder aus der elften Etage für Gefahr zu sorgen - es wirkte, plötzlich schien Melsungen angezählt: Zwei wuchtiger Treffer des Schweden später stand es erstmals seit dem 0:0 wieder unentschieden: 32:32 nach 56:29 Spielminuten. Erlangen hatte sich nun verbissen - und dachte gar nicht daran, die Kiefer wieder zu lockern - wie sehr sich der Tabellenelfte auch wehrte und wie er auch zappelte. Noch einmal Zehnder sehenswert unter die Latte (33:33) - und es bedurfte nur noch einer letzten, entscheidenden Antwort auf das 33:34 vierzig Sekunden vor der Schlusssirene. Noch einmal nahm Raul Alonso eine Auszeit, die Menschen aussenherum hielt es längst nicht mehr auf den Plätzen. Gewaltige Energie schickte das Publikum mit den Klatschpappen noch einmal nach unten aufs Feld, „es war beeindruckend“, fand Steinert hinterher, „wie viel Kraft das jedem einzelnen von uns gegeben hat“. Die brauchte es auch, als kurzzeitig das Chaos drohte, diese Partie zu kapern - zwei Minuten gegen Büdel, der zu früh zurück aufs Feld gerannt war, zum Glück aber in einer Spielunterbrechung. Rot gegen Agustin Casado, weil er den Abstand bei Jeppssons letztem, verzweifelten Versuch eines Freiwurfs nicht eingehalten hatte. Aufregung hier, Panik dort - und das alles gefärbt im wilden, im grellen Rot und Blau von den Rängen. „Ich dachte mir: Mit Nebojsa Simic steht ausgerechnet ein richtig guter Torwart zwischen den Pfosten - ich hätte mir gern einen Schwächeren gewünscht“, gestand Christoph Steinert, nachdem er zum letzten Siebenmeter des Spiels an die Linie trat. „Ich habe es aber trotzdem hinbekommen, an nicht so viel zu denken - und das ist glücklicherweise gut gegangen.“ Es war der Moment, als die Uhr auf 17:49 Uhr sprang, der Ball zum 34:34-Endstand im Melsunger Tor einschlug - und irgendwo in Nordbayern dieser Seismograph kurz, aber gewaltig ausschlug.

HC Erlangen:
Ferlin (5 Paraden, 19 Gegentore), Obling (4, 15);
Sellin, Zehnder 6, Büdel 2, Bissel 1, Metzner 2, Link 1, Jeppsson 3, Steinert 7/4, Olsson 7/2, Zechel 4, Firnhaber 1.

MT Melsungen:

Morawski (7 Paraden, 27 Gegentore), Simic (1, 7);
Malasinskas 4, Casado 4, Ignatow 2, Moraes 3, Drosten, Gomes 3, Kalarash 3, Häfner 4, Martinovic 5/5, Mandic 6.

Schiedsrichter: Tanja Kuttler und Maike Merz.