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HANDBALL-KRIMI IN HANNOVER: HC ERLANGEN MUSS SICH HAUCHDÜNN GEGEN DIE RECKEN GESCHLAGEN GEBEN

03.11.2022

Ein völlig verrücktes, ein irres Handballspiel mit einem unfassbar bitteren Ende für den HC Erlangen lieferte sich die Mannschaft von Trainer und Sportdirektor Raul Alonso am Donnerstagabend beim TSV Hannover-Burgdorf. Dabei war die Partie eigentlich schon gelaufen, bevor sie so richtig begonnen hatte: Nach gerade mal 22 Minuten hatte der HCE keinen Fuß, ja nicht einmal die kleine Zehe auf den Hallenboden gebracht. Es bestimmte der Tabellensiebte aus Hannover das Geschehen nach Belieben, führte haushoch mit 14:6 und konnte scheinbar seelenruhig die Füße, die manchen noch vom heißen Schlagabtausch gegen die Rhein-Neckar Löwen brannten, entspannt hochlegen. Vorne bediente der starke Marian Michalczyk immer wieder Kreisläufer Ilja Brozovic gegen eine zugige, zeitweise gar windige Gästedeckung, hinten vernagelte Torhüter Domenico Ebner seinen Kasten derart luftdicht, dass mehr als jeder zweite Wurf der Erlanger den Weg ins Heimtor nicht finden konnte. Erlangen wiederum wollte eigentlich aggressiv und fokussiert auftreten, endlich mal mit dem Anwurf gleich Gegenhalten und auf gar keinen Fall wieder einen dieser tonnenschweren, steingefüllten Rucksäcke in Form eines hohen Rückstands auf den Rücken schnallen. Und es war diesmal auch gar kein Rucksack voller Backsteine, es war gleich ein ganzer Steinbruch, den sie nach so kurzer Zeit bereits mit sich herumtrugen: 2:7, 4:10, 6:14 - es drohte zeitweise ein Debakel für die Mittelfranken, bei denen Raul Alonso nach 22 Minuten bereits die zweite Notbremse in Form einer Auszeit ziehen musste.

„Ich will wieder das Brennen in euren Augen sehen“, schimpfte der Cheftrainer mit heiserer Stimme, „so, wie vor dem Spiel.“ Die feurige Ansprache zeigte Wirkung, zündete wie ein Streichholz, das man an eine Gasquelle hält, regelrecht Stichflammen in den Herzen seiner Spieler - und fortan brannte weit mehr als nur der Blick, nun brannte der ganze HC Erlangen lichterloh.

Jeder Aktion merkte man endlich den Willen, die Aggressivität, die Härte und den Fokus an, den man bis dahin so schmerzlich vermisst hatte. Auch wenn im Tor Klemen Ferlin noch Bertram Obling im ganzen Spiel nie zum Faktor wurden - lediglich Obling brachte in den ersten 30 Minuten ein einziges Mal die Hand an den Ball - vorn ließ der HCE den gut herausgespielten Möglichkeiten nun endlich auch die Tore folgen. Der bis dahin famose Domenico Ebner konnte sich plötzlich nicht mehr für seine Paraden - bis dahin waren es satte zehn Stück gewesen - feiern lassen, nun musste er immer wieder den Ball aus dem Hannoveraner Netz fischen. Lutz Heiny, der wie ein hochdosierter Energydrink Tempo und Zug ins Erlanger Angriffsspiel jagte, und ein wieder sehr treffsicherer Christopher Bissel sorgten gemeinsam mit dem sicheren Siebenmeterschützen Christoph Steinert für fünf Tore in Folge bis zum Seitentausch. Der sang- und klanglose Auftakt hatte sich nun zu einem 11:14 zur Pause gewandelt.

Gästetrainer Christian Prokop brachte zum zweiten Durchgang nun wieder seine Paradereihe, die er zuvor wohl etwas zu lang geschont hatte. Prompt schüttelte Hannover das Pech und Unvermögen wieder ab und traf wieder nach Belieben - mit dem Unterschied, dass auch das Trio Heiny/Bissel/Steinert auf der Gegenseite auf Betriebstemperatur gelaufen war. Letzterer vertrat den angeschlagenen Hampus Olsson für den an diesem Tag völlig glücklosen Johannes Sellin auf Rechtsaußen mit Bravour. Doch während Klemen Ferlin, den Raul Alonso nach zehn Minuten der zweiten Hälfte wieder zwischen die HCE-Pfosten schickte, ebenfalls glücklos blieb, steigerte sich auf der Gegenseite nun Kiel-Neuzugang Dario Quenstedt immer mehr. Doch Erlangen ließ sich nun nicht mehr abschütteln, hatte sich festgebissen am Schlawittchen der Gastgeber. Das änderte sich auch nicht mehr, als mit der dritten Zeitstrafe gegen Nico Büdel der nächste herbe Nackenschlag zu verdauen war. Ja, selbst in doppelter Unterzahl kämpfte sich der HCE nun tapfer zu einem Siebenmetertor, endlich fand auch Klemen Ferlin mehr und mehr ins Spiel. Es entwickelte sich so ein heißer, längst nicht mehr für möglich gehaltener Schlagabtausch in einem hochspannenden Aufeinandertreffen - bei dem nun Hannover minütlich die Kräfte schwanden. Als Christopher Bissel einen Gegenstoß sehenswert verwertete, stand es erstmals wieder 23:23 (48.). Sebastian Firnhaber hatte sogar allein vor Quenstedt die Führung für die Gäste auf der Hand - doch der Kapitän scheiterte an Quenstedt und dem Pfosten.

Hannover schleppte sich nun vorwärts, schnaufte wie eine Diesellock Angriff für Angriff bis hinauf unters Hallendach. „Es war fast fatal, wie schnell und fahrlässig wir eine Acht-Tore-Führung aus der Hand gegeben haben“, verriet Michalczik hinterher abgekämpft. Denn nun war Erlangen drauf und dran, die Gastgeber zu überrollen - obwohl diese in Torhüterparaden mit 16:4 deutlich führten. Als Steffen Fäth einen Zauberpass auf Tim Zechel wie ein Gemälde in die Halle pinselte und der HCE-Kreisläufer zum 26:26 traf (55.), brach die Zeit der Entscheidungen an. Immer wieder scheiterte Erlangen nun an Quenstedt, erzwang aber mit großer Moral und starkem Willen Abpraller um Abpraller. Ein nervenstarker Steinert vom Siebenmeterpunkt besorgte den Rest - so ging es weiter auf Augenhöhe, aber ohne Torhüterglück Richtung Ziellinie: Hannover legte mit der allerletzten Kraft und viel, viel Glück Mal ums Mal vor, der HCE rutschte sofort nach. Ferlins vierte Parade erkämpfte 30 Sekunden vor Schluss seinen Farben den entscheidenden Ballbesitz und damit die goldene Trumpfkarte im letzten Spielzug bei nur einem Tor Rückstand. Doch noch immer hatte der Handballgott nicht genug, nun schickte er einen Leichtsinnsfehler hinunter aufs Parkett, durch den der Ball fast quälend langsam ins Seitenaus rollte. Das Schicksal wollte es so, dass sich Erlangen nun selbst um den Lohn einer starken, niemals für möglich gehaltenen Aufholjagd brachte.

Noch einmal griff Hannover an, noch einmal parierte Ferlin bravourös - was alles irgendwie nur noch schlimmer machte. Die Uhr stoppte letztlich bei 29:28 für Hannover, das sich mehr als erleichtert und überglücklich mit zwei blauen Augen in die Arme fiel. Erlangen hingegen war schwer enttäuscht: „Ich kann das kaum in Worte fassen“, suchte Tim Zechel nach so etwas wie einer Antwort auf ein irres, ein verrücktes Handballspiel, auf das es keine Antworten mehr gab. Daher schloss Zechel treffend: „Es tut einfach nur unfassbar weh.“ 

STATISTIK

TSV Hannover-Burgdorf
Tor: Ebner, Quenstedt
Vujovic 2, Roscheck, Mävers 1, Uscins 3, Kuzmanovski, Michalczik 5, Gautzsch, Edvardsson 3, Gerbl 6/2, Brozovic 5, Feise 2, Büchner 2.

HC Erlangen
Tor: Ferlin, Obling
Heiny 4, Sellin, Zehnder, Fäth 2, Firnhaber 2, Büdel, Bissel 5, Metzner 4, Jeppsson 2, Steinert 7/4, Zechel 2.