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HC ERLANGEN UNTERLIEGT DEM THW KIEL

21.05.2023

Nein, auch nach 42 Spielminuten zog Olafur Stefansson seine Trainingsjacke noch nicht aus, womit spätestens klar war: Es wird doch nicht zum spektakulärsten Comeback im Handball in diesem Jahr kommen; 49 Jahre ist Stefansson mittlerweile jung, er ist Co-Trainer des HC Erlangen - gilt aber noch immer als der vielleicht beste Halbrechte, den dieser Sport bis heute gesehen hat. Doch die Not, in der sich der HCE plötzlich befand, sie hatte selbst aberwitzigste Ideen fabriziert.
Und als mit Antonio Metzner (Bauchmuskelverletzung) und Christoph Steinert (Schulterprobleme) auch noch Stephan Seitz mit einer sehr harten Roten Karte nicht mehr mitspielen durfte, da blickte von den 10.285 Zuschauern in der Kieler Ostseehalle manches Augenpaar gespannt eben auf Olafur Stefansson. Doch sein Chef, Raul Alonso, brachte mit Manuel Zehnder beziehungsweise Lutz Heiny zwei Rechtshänder auf der Linkshänderposition - es war das allerletzte fränkische Aufgebot, das sich an der Förde dem Rekordmeister entgegen stellte. Und doch war das sehr deutliche 35:26 (18:12), mit dem sich der große THW Kiel zurück an die Tabellenspitze beförderte, am Ende aus Erlanger Sicht deutlich zu hoch ausgefallen.

"Sie sind auf jeder Position gleich doppelt mit Weltklasse besetzt", hatte Cheftrainer Raul Alonso, selbst ja mit Kieler Co-Trainervergangenheit, im Vorfeld noch einmal erinnert. Die Fallhöhe, die an normalen Tagen schon nicht besonders hoch ist, wenn man in der Ostseehalle antreten muss, war für den stark dezimierten HCE noch kleiner geworden, je näher die Partie rückte. Denn so tat auch die Saisonphase ihr übriges mit dazu - es geht im Endspurt nicht nur um Punkte, sondern auch um die Tordifferenz im Wettlauf um den Titel. "Wir wollen uns so teuer wie möglich verkaufen", hatte Nikolai Link, der Erlanger Abwehrspieler, verraten - egal, wieviele Verletzte letztlich zu beklagen waren. 
So wurde die Begegnung vor allem für den Juniorennationalspieler Stephan Seitz etwas Besonderes; erstmals stand der 21-Jährige von Beginn an auf dem Feld, mit großen Augen ging es gegen die Weltstars, die er lang nur aus dem Fernseher kannte. "Ich muss Seitzi ein Riesenkompliment aussprechen", lobte Nikolai Link hinterher, "er hat das enorm unaufgeregt heute überragend gemacht." Der Linkshänder traf sogar zwei Mal gegen Niklas Landin - ehe eben auch Seitz in jener 42. Minute vom Feld musste.

Ausgeglichen gestalten konnte der Gast die Begegnung nur bis zur 4. Minute (2:2), dann setzte sich Kiel zunehmend ab, weil der HCE vor allem die Lücken im Umschaltspiel selten geschlossen bekam. Zwar hielt Klemen Ferlin noch zweimal großartig gegen Ekberg und Wiencek, trotzdem lag Erlangen nach neun Minuten 2:5 in Rückstand. Ein stark verbesserter Simon Jeppsson brachte mit Sebastian Firnhaber an alter Wirkungsstätte und Hampus Olsson den HCE aber wieder heran (6:5, 13.) - doch es war die individuelle Klasse Kiels, immer im richtigen Moment wieder ein, zwei Schaufelladungen Kohle aufs Feuer kippen zu können. Mit einem 6:1-Lauf waren klare Verhältnisse zwischen dem Rekordmeister und dem Tabellenzwölften wieder hergestellt (12:6, 20.). 
Immer wieder lief Erlangen mutig an, bekam die Kieler Deckung aber nicht wirklich auseinander. Im Gegenteil: Unvorbereitete Würfe schalteten mehr und mehr Landins Superhelden-Modus im Heimtor an, darüber hinaus sorgten technische Fehler für Ballverluste, die der Gastgeber eiskalt ausnutzte. Beim 13:8 tauschte Alonso seine Keeper und im Zusammenspiel mit der Deckung wurde nun auch Bertram Obling zu einem Faktor der Partie. Während sich Landin der 39-Prozent-Fangquote näherte, jagte ihn der Erlanger Schlussmann mit stolzen 36 Prozent gehaltenen Würfen. Mit 18:12 ging es in die Pause.

Im zweiten Durchgang gelang es Erlangen zunehmend besser, den Positionsangriff der Kieler auf Grund laufen zu lassen. Mit flinken Beinen, klugem Verschieben und der nötigen Portion Härte und Konzentration  machte der Gast aus einem 24:16 ein 25:20 (Jeppsson, 47.). "Wenn man sieht, mit welchem Kader wir in Kiel antraten, war das absolut okay", fand Nikolai Link. Doch noch hatte der THW Kiel nicht genug in dieser Partie. Noch einmal verschärfte der Rekordmeister das Tempo und schüttelte sich den HC Erlangen endgültig vom Rücken. "Es ist deshalb ein brutales Ergebnis mit neun Toren", fand Link, "aber es sieht schlimmer aus, als es letztlich war."

Auch die Kieler nahmen den aufopferungsvollen Kampf der Gäste anerkennend auf - letztlich aber siegte an diesem Nachmittag die höhere individuelle Qualität. Der hätte der HCE nur noch einen echten Trumpf entgegenzusetzen gehabt, aber Olafur Stefansson ist bekanntlich mittlerweile 49 Jahre alt.


THW: Niklas Landin; Duvnjak 2, Sagosen 3, Reinkind 4, Magnus Landin 3, Overby 3, Wiencek 4, Ekberg 3/2, Pabst, Fraatz, Zarabec, Wallinius 4, Bilyk 7, Pekeler 2.

HCE: Ferlin, Obling; Heiny 2, Seitz 2, Sellin 4, Bialowas 1, Zehnder 2, Firnhaber 5, Büdel, Bissel 3, Link, Jeppsson 6.